Tuesday, May 28, 2024

Grice e Volpi

 

Rezension von: Franco Volpi: Heidegger e Aristotele, Daphne Editrice, Padova 1984, 225 Seiten. Zuerst erschienen in: W. Schirmacher Hrsg.: Schopenhauers Aktualität. Ein Philosoph wird neu gelesen. Schopenhauer-Studien 1/2. Passagen Verlag, Wien 1988, S. 331-334. 
 
 
 

HEIDEGGER UND ARISTOTELES 

Rafael Capurro

  
 
 

Inhalt 

Einleitung  

I. Heideggers Dialog mit Aristoteles 
II. Aristotelische Kategorien und Heideggersche Existenzialien   
III. Die Frage nach der Zeit   
IV. Heideggers Radikalisierung der Metaphysik   

Schluß: Offene Fragen   

Weiterführende Literatur 

 
   
 

Einleitung

In seinem 1967 in der Akademie der Wissenschaften und Künste in Athen gehaltenen Vortrag schreibt Heidegger:  
"Die Kunst entspricht das physis und ist gleichwohl kein Nach- und Abbild des schon Anwesenden. Physisund téchne gehören auf eine geheimnisvolle Weise zusammen. Aber das Element, worin physis und téchne zusammengehören, und der Bereich, auf den sich die Kunst einlassen muß, um als Kunst das zu werden, was sie ist, bleiben verborgen." (M. Heidegger: Denkerfahrungen, Frankfurt a.M. 1983, S. 139)
Für wen bleibt dieser Bereich "verborgen"? Zumal für unsere technische Zivilisation, die sich mehr und mehr, über alle Grenzen hinweg, ausbreitet und somit sich jeder Möglichkeit einer selbstkritischen Distanz beraubt. Und dennoch: wir sind dem nicht ausgeliefert. Heidegger wird öfter bekanntlich vorgeworfen, er verfalle mit seiner Auffassung des "Seinsgeschickes" im pessimistischen Mystizismus und ergreife die Flucht in die Antike durch seinen "Schritt zurück". Nichts von alledem. Wir lesen im selben Vortrag:  
"Schritt zurück heißt: Zurücktreten des Denkens vor der Weltzivilisation, im Abstand von ihr, keineswegs in ihrer Verleugnung, sich auf das einlassen, was im Anfang des abendländischen Denkens noch ungedacht bleiben müßte, aber dort gleichwohl schon genannt und so unserem Denken vorgesagt ist." (ebda.)
Das Thema Heidegger scheint indessen im deutschsprachigen Raum und insbesondere in der Bundesrepublik weiterhin von aller Art von Vorurteilen belastet zu sein. Man braucht nur an die klischeeartigen Ausführungen von Jürgen Habermas in seinen Vorlesungen "Der philosoophische Diskurs der Moderne" (Frankfurt a.M. 1985) zu denken, um das Groteske dieses Mißverständnisses (falls der Versuch eines Verständnisses unterstellt wird) zu exemplifizieren. Und Aristoteles? Er gilt inzwischen für viele als "Urvater" bzw. "Urheber" der heute herrschenden Technologie, nämlich der Informationstechnologie Die Bestrebungen der "Künstlichen-Intelligenz-Forschung", etwa in der Herstellung von "Expertensystemen", haben in der aristotelischen Logik ihr Rezeptbuch gefunden.

I. Heideggers Dialog mit Aristoteles

Franco Volpi lädt uns mit seinem schlicht betitelten Buch Heidegger und Aristoteles zu einer Begegnung dieser Denker ein, die, ganz außerhalb von diesen Klischees, zur Sache selbst führt. Der Dialog Heideggers mit Aristoteles ist zwar ein lebenslanger Dialog gewesen, aber der Verfasser betont mit Recht drei Höhepunkte, nämlich  
  • die frühe Anwesenheit des Aristoteles in Heideggers Seinsfrage, indem diese durch den scholastischen Filter Brentanos und Braigs zu ihm drängt und zu Aristoteles führt;
  • die (etwa zehnjährige) Periode des Ausbrütens von Sein und Zeit, als die entscheidende Zeit des Dialogs, die sich in den Marburger Vorlesungen sowie in Sein und Zeit selbst niederschlägt;
  • und schließlich die Anwesenheit Aristoteles' nach der "Kehre".
Dementsprechend fällt  der Schwerpunkt von Volpis Ausführungen auf den zweiten Höhepunkt, der mit der Überschrift "Wahrheit, Subjekt, Zeitlichkeit" gekennzeichnet ist. Heidegger begegnet Aristoteles ausgehend von den in der Husserlschen Phänomenologie offen gelassene Frage nach der ontologischen Konstitution des menschlichen Lebens (bzw. der "Lebenswelt"). In dieser Begegnung, die auf eine kategoriale Differenzierung hinausläuft, öffnet sich der Blick für die Kantische Frage nach der Einheit des Kategorialen, die, sofern sie auf ein endliches Subjekt zurückgeführt wird, den Zusammenhang zwischen Subjektivität (bzw. "Dasein") und Zeitlichkeit offenbart. Damit kündigt sich zugleich die zentrale "These" Heideggers bezüglich des metaphysischen Seinsverständnisses im Sinne von Anwesenheit, mit der dazugehörigen Privilegierung der zeitlichen Dimension der Gegenwart an. Gegenüber einer kategorialen (bzw. "gnoseologischen") Wahrheitsauffassung sucht Heidegger (Husserl folgend) in Aristoteles die Spuren einer präkategorialen "fundierenden" Wahrheit, wobei solange man den Bereich eines endlichen Subjektes nicht verläßt, eine solche "Fundierung" auf die Einheit von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand bezogen bleibt.

II. Aristotelische Kategorien und Heideggersche Existenzialien

Der Verfasser erläutert in klaren Umrissen die Kernpunkte der Heideggerschen Analysen aus De interpretatione sowie aus ausgewählten Stellen der Metaphysik. Es geht dabei u.a. darum zu zeigen, inwiefern die Struktur des prädikativen logos nicht nur in die Frage nach der "Wahrheit", sondern vor allem in die nach dem "Wahr-sein", also noch einem ontologischen vorprädikativen Sinne von Wahrheit mündet. Die psyche ist "in" der Wahrheit, d.h. sie ist in der Weise des "Entbergens" (aletheuein). Während es bei den prädikativen Wahrheit um die Wahrheit bzw. Falschheit der Aussage geht, geht es bei der ontologischen Ebene um das "Vernehmen" bzw. "nicht Vernehmen" (noein / agnoein) des Sich-Entbergenden. Mit anderen Worten, das Sein, temporal vorverstanden als "Anwesenheit", ermöglicht erst die Prädikation des "Wahren" und "Falschen". Dieses temporale Vorverständnis des Seins bildet, wie der Verfasser richtig bemerkt, die eigentliche "Entdeckung" Heideggers, die ihn zu einem kritischen Durchgang durch die Geschichte der Metaphysik führt. In einem zweiten Schritt erläutert Volpi die gewissen Parallelität zwischen den ontologischen Bestimmungen von "Dasein", "Zuhandenheit" und "Vorhandenheit" (als die drei Seinsmodi, die Heidegger in Sein und Zeit eingehend erörtert) und den aristotelischen Unterscheidungen zwischen praxispoiesis und theoria, wobei, nach Ansicht Volpis, die Korrespondez praxis / "Dasein" zunächst ungewöhnlich erscheint. Hier zeigt der Verfasser, wie mir scheint, den entscheidenden Durchbruch Heideggers in seiner Kritik der bisherigen Vorherrschaft einer kognitiv-theoretisch orientierten Bestimmung des Menschen. Hier liegt auch der Anknüpfungspunkt Heideggers am "praktischen" Denken Aristoteles' in der Nikomachischen Ethik (bes. im VI. Buch), wobei man erneut die erstaunliche produktive (!) Parallelität, die aus diesem Dialog hervorgeht, feststellen kann, z.B. in Bestimmungen wie "Gewissen" / phronesis, "Sorge" / orexis,  "Entschlossenheit" / prohairesis, "Befindlichkeit" / pathe  bis hin zur Deuttung des "Verstehens" im Sinne des nous praktikós.

III. Die Frage nach der Zeit

Im Hinblick auf die Frage nach der Zeit, den dritten Schwerpunkt von Volpis Analysen dieses zweiten Höhepunktes in der Begegnung zwischen Heidegger und Aristoteles, ist die (christlich-) kairologische gegenüber der "chronologischen" Erfahrung der Zeitlichkeit für Heidegger bedeutsam.  

Heidegger reift schrittweise, so Volpi, zu seiner Auffassung, daß die Zeitlichkeit die Struktur menschlichen Lebens darstellt. In diesem Reifungsprozeß setzt sich Heidegger kritisch mit der naturalistischen Auffassung der Zeit bei Aristoteles auseinander, indem er, aufgrund einer Analyse der Bestimmung der Zeit in der Physik, die aristotelische Definition als die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Zeit und der (zählenden) "psyche", d.h. also als die Frage nach der ontologischen Bestimmung der "psyche" nachweist. Der Rezensent kann hier nur auf den analytisch "glasklaren" Text des Verfassers hinweisen, der diese schwierige Aus-einander-setzung zwischen Heidegger und Aristoteles in einer so zentralen Frage meisterhaft bewältigt. von der aristotelischen ("vulgären") Auffassung der Zeit führt dann der Weg zur Analyse der "Zeitlichkeit" sowie der "Temporalität", von wo aus erst das primus und posterius der Bewegung in ihrer Dimensionalität (wozu auch das nunc gehört) erfaßt werden können. So gelangt Heidegger, von Aristoteles ausgehend, zur Zeitlichkeitsstruktur des "Daseins" (in Sein und Zeit). 

IV. Heideggers Radikalisierung der Metaphysik

Die Anwesenheit Aristoteles' nach der "Kehre", so der Titel des letzten Teils des Buches, weist zunächst auf die Heideggersche Radikalisierung der Metaphysik (etwa in der "Physis"-Schrift), indem das (metaphysische) Projekt einer "Fundamentalontologie" verlassen wird, hin. Der Verfasser vertieft aber die Anwesenheit Aristoteles' in den Jahren 1929 bis 1931, in denen die Fragen nach dem "Ort" des 'logos' im Ereignis der Wahrheit (seine weltbildende Kraft), nach dem Sein als Anwesenheit und als Wahrheit (Sein als "energeia") bis hin zur entscheidenden Entdeckung des Seins als physis (wie es die "Vorsokratiker", vermutlich erfahren haben) und seines "Einfangens" in der techne im Vordergrund stehen. Das Phänomen der Technik wird vom 'späten' Heidegger insofern radikal in Frage gestellt, als es die (anfänglich positiv bewertete) Operationalität des "Zuhandenen" beinahe monströsen bzw. zerstörerischen Dimensionen erreicht. Demgegenüber betont aber Heidegger, daß techne bei den Griechen das eigentliche "Gegenüber" der physis darstellt, d.h. das, wodurch die physis in ihrer Offenheit und "Verborgenheit" aufgenommen wird, sowie das, wodurch die physei onta so in ihren "Formen" (eidos, idea) erkannt werden, daß man etwas Entsprechendes gegenüberstellt. Dieses "Gegenüber" von techne und physisbedeutet aber (noch) nicht den Verlust der physis in ihrer "überwältigenden" Dimension. Was Heidegger in der "Physis"-Schrift leistet, so mit Recht der Verfasser, ist eine (im doppelten Sinne des Wortes) "epochale" Auslegung des Aristoteles, nämlich eine "Über-Setzung" von Fragen, die längst überholt schienen, während sie in Wahrheit unserer modernen Auffassung von Natur und Technik buchstäblich zugrundeliegen. Darauf weist Volpi ausdrücklich im Schlußkapitel hin. Gerade für eine Analyse der "Moderne" bietet der Dialog Heidegger-Aristoteles entscheidende Anhaltspunkte.
  
 Schluß: Offene Fragen
 
Zwei kritische Bemerkungen schließen diese Arbeit:
  • Vollzieht tatsächlich das Wesen der modernen Technik den originären impetus des griechischen logos? und
  • inwiefern ist dem "Finitismus" Heideggers zuzustimmen, daß die Zeit den logos formt (und nicht umgekehrt, wie für die Griechen?
Volpi deutet an, beide Fragen gewissermaßen vereinigend, daß es einen "polyvalenten logos" gibt, den es gegenüber einem "eindimensionalen logos" wiederzugewinnen gilt. Müßte man nicht auch von einer 'polyvalenten techne' (bzw. Technik!) sprechen? Wie steht es aber dann mit der Frage nach der Kunst? Ist nicht Eros ein großer Dämon, der zu verdolmetschen weiß? Heidegger in Dialog mit Platon?
 

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